Bericht Mitteldeutscher Marathon 2022 – Karsten

Filamente (von lateinisch filum „Faden“) sind die größten Strukturen im Universum, wobei in einem Satz die Worte Größe oder größte und Universum zu schreiben ein sehr kühnes Vorhaben darstellt. Doch kühnen Vorhaben ist die Quintessenz dieser wahren Geschichte.

In der Clusterung der Materie im Universum kommt nach den Filamenten die Supergalaxienhaufen. Einer dieser Supergalaxienhaufen ist Laniakea, mit rund 100000 Galaxien. Mehr als 3000 Galaxien davon, haben den Virgo-Haufen gebildet und der Dreiecksnebel, Andromeda und die Milchstraße bilden zusammen eine lokale Gruppe innerhalb der Virgo-Struktur.

In einem Seitenarm der Milchstraße, befindet sich ein Sonnensystem, deren dritter Planet viele Namen trägt, Terra, blauer Planet, Globus, Welt oder einfach nur die Erde, genannt wird.

Und genau dort, am 09.10.2022 beginnt diese Geschichte.

Es ist an einem Sonntagmorgen und es ist bitterlich kalt, vielleicht gerade mal 4°C. Die kaltklare Morgenluft lässt den Dunst und die Nebelschwaden über das Wasser wabern. Die Szenerie hat eine intrinsische Eleganz und ästhetische Erhabenheit, doch von all dieser Schönheit und dieser Erhabenheit des Momentums sehe ich genauso viel wie von der Rückseite des Mondes. Komplet andere Dinge rauben mir meine vollständige Aufmerksamkeit.

Leicht bekleidet und 8 Energiegels fest in den Händen haltend, stehe ich mit 200 anderen Startern an den Elsterflutbecken, in der Nähe der Festwiese mitten in Leipzig.

 Ein Blick auf die Sportuhr verrät mir einen Puls von 125 Schläge pro Minute. 125 Schläge, denke ich erschrocken, das ist zu hoch, sogar viel zu hoch für jemanden der nur rumsteht, und ich stehe nur rum. Um genau zu sein stehe ich nicht nur so rum, sondern ich warte auf den Startschuss für den 19. Mitteldeutschen Marathon von Leipzig nach Halle und für mich es ist ein besonderer Marathon, so viel steht schon mal fest. Direkt vor mir ist die große, weiße Startlinie und 42,195 Kilometer Wettkampfstrecke. Hinter mir liegt so einiges, der Tod meines Vaters, eine 2 Jahre andauernde Corona-Pandemie, wo angemessener Anstand, von abgemessenem Abstand abhängte, wo viele geplatzte Wettkämpfe und genauso viele geplatzten Träume, Hoffnungen und Wünsche eine gewisse Lethargie auszulösen drohte.

Vor fast genau 12 Wochen sollte die heiße Phase der Marathonvorbereitung beginnen, und was passierte da? Genau, das Corona-Thema holte mich erneut ein. Nur diesmal nicht als Top-News aus Presse, Funk und Fernsehen, sondern ich bin selbst betroffen und erkrankt. Und als wäre das nicht schon lästig genug, habe ich auch noch Susi und Oli angesteckt. 7 Tage Quarantäne, 7 Tage die Wohnung nicht verlassen, 7 Tage keine Bewegung und 7 Tage kein Sport und kein Training. Und danach? Aus Mangel an Erfahrungen mit einer Coronaerkrankung gab es 14 Tage nur leichtes Training, keine Intensität. Blos kein Risiko mit einer Folgeerkrankung eingehen. Das habe ich mir komplett anders vorgestellt, denn so kurz vor dem entscheidenden Marathonwettkampf ist das schlicht eine totale Katastrophe. Lohnt sich ein Start noch? Die klassische Marathonvorbereitung beträgt 12 Wochen. Jetzt fehlen rund 20% der Zeit. Eine persönliche Bestzeit ist unter solchen Voraussetzungen nicht realistisch. Selbst unter die magische Drei-Stunden-Marathongrenze zu laufen, wird extremst schwierig. Doch wenn eine persönliche Bestzeit kein realistisches Ziel ist, was ist dann das Ziel? Eine 0815 Zeit die ich schon vor 20 Jahren x-mal gelaufen bin?  Dafür soll ich kämpfen, mich abrackern und mich quälen?  Das klingt nicht besonders reizvoll.

Die kleine Schwester von Scheiße ist nicht nur Frau Nett, sie hat auch einen kleinen Bruder und der nennt sich Herr Bequemlichkeit. An einem Sonntagmorgen im Sonnenmonat Juli wogen wir, Susi, Oli und ich, dass Für und das Wieder ab. Der aphoristische Spruch „Es ist wie es ist, also machen wir das Beste draus“ führte uns zu der alles entscheidenden Konklusion, wir starten. Die Bedeutung von „Wir machen das Beste draus“ ist allerdings 8 Wochen raus aus der Komfortzone und rein in ein beinhartes Training, mit Blut, Schweiß und Tränen.

All das liegt nun hinter mir. Es war sehr viel Schweiß dabei, auch ein wenig Blut ist geflossen, und ja, ein paar kleine Tränen, so ganz tief in meiner Seele, für niemanden sichtbar, außer vielleicht für Olli, brachen sich auch ihre Bahn.

Jetzt stehe ich vor dieser großen weißen Starterlinie und vor mir liegen diese 42,195 Kilometer. Eine elektrisierende Aufregung durchströmt meinen gesamten Körper und ich schaue nochmal auf die Uhr. Nein, jetzt sind es schon 128 Schläge pro Minute. Oh Gott, das wird ja immer besser, schießt es mir als sarkastischer Gedanke quer durch den Kopf, denn nun verbrenne ich frühzeitig unnötig eine Menge an wertvollen Kohlenhydraten.

Ob es Oli auch so geht? Ich werfe einen Blick nach hinten, um Oli einen optimistischen Blick zuzuwerfen, doch durch die dichtgedrängt stehenden Läufer sehe ich ihn nicht.

Mein Blick erfasst erneut die große, weiße Startlinie und ein klein wenig abseits, auf der linken Seite, dicht neben der Marathonstrecke, da steht Tino, unser Team-Manager, Betreuer, Chef des Teamfahrzeugs, Edel-Fan und emotionaler Mittelpunkt.

Eine sehr kraftvolle und energiegeladene Stimme ertönt aus den Lautsprechern. Der Moderator des Marathon-Start-Events beginnt den Countdown. Neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei zwei, eins! Mit einem lauten Knall ertönt der Startschuss.

Ich explodiere und laufe im Höchsttempo los, um mich vorne in die Spitzengruppe einzuordnen. Dabei laufe ich an Tino vorbei, der mich aufgeregt anschreit: “Karsten, nicht zu schnell beginnen“. Erschrocken fällt mir ein, stimmt ja, ich beginne die Wettkämpfe traditionell immer ein klein wenig zu ambitioniert, zu motiviert, zu euphorisch, zu optimistisch, zu schwungvoll, kurzum ich beginne die Wettkämpfe immer viel, viel zu schnell. Hastiger Uhrencheck, Pace ist 3:30 min/km, oh das ist schnell, denke ich erfreut. Die Herzfrequenz ist bei 152 und steigt und steigt und steigt. Mein eben noch erfreuter Gemütszustand bekommt einen kleinen Dämpfer, okay, die Herzfrequenz ist zu hoch, das ist nicht so gut, ich bin richtig zu schnell, doch egal, den ersten Kilometer laufe ich so und vielleicht auch den zweiten Kilometer, beschließe ich pragmatisch.

Ein Rundum-Blick verrät mir, dass ich mich in einer 5-Mann-Gruppe befinde, die sich schon nach wenigen Metern ganz leicht vom Rest des Läuferfeldes abgesetzt hat.

Ich fange an meine Nebenmänner zu mustern und zu kategorisieren. Direkt vor mir, an der Spitze des Läuferfeldes, befindet sich ein Typ mit einem auffälligem roten Laufshirt und rotem Schweißband um die Stirn, was den Kopf ein wenig länger wirken lässt, als er eigentlich ist. In großer Schrift ist auf seinem Shirt zu lesen Triathlon Sportclub Dresden. Ich taufe ihn auf den Namen „der Fuchs“ Neben ihm, im gleichhohen Tempo laufend, befindet sich ein hochgewachsener Läufer mit Vollbart. Warum auch immer ist er für mich „Obi Wan Kenobi“. Links neben mir befindet sich „die Gazelle“, denn dieser Laufkollege besteht nur aus Kopf, Hals und dann kommen auch schon die Beine. Einen kleinen flinken Läufer, mit grünen Lauf-Shirt nenne ich „Meister Yoda“, und zum Schluss besteht diese kleine Spitzengruppe noch aus dem „Mandalorian“. Er überholt mich immer, um sich danach wieder zurückfallen zu lassen. Sein Gesicht bekomme ich jedoch nie zu sehen.

Meine Sportuhr piepst und vibriert. Der erste Kilometer ist in einer Pace von 3:45 min/km absolviert. Das ist richtig schnell. Nur die Herzfrequenz bereitet mir Sorgen, aktuell bei 166 und das ist völlig außerhalb meines Zielbereichs und viel, viel zu hoch. Wird sich diese hohe Herzfrequenz am Ende rächen? Welchen Preis werde ich bei Kilometer 36 für das viel zu hohe Anfangstempo bezahlen? Na wenn das mal gut geht, denke ich.

Der Fuchs, Obi Wan Kenobi und die Gazelle laufen weiter dieses Höllentempo und ich nehme ein klein wenig an Geschwindigkeit raus, um in meinem Pulsbereich zu kommen. Mein Matchplan sieht vor die ersten 30 Kilometer bei 153 bis 156 bpm zu absolvieren, um dann noch für die restlichen 12 Kilometer Kraft für ein hohes, gleichmäßiges Tempo zu haben. Meine Läuferseele protestiert empört und schreit laut auf, nein Karsten, lass nicht abreisen, lass Obi Wan und den Fuchs nicht davonziehen.  Doch zum Glück siegt die Sapientia in mir und ich besinne mich auf meine guten Vorsätze. Den Plan einhalten, nicht zu schnell beginnen, der Wettkampf ist lang und, ganz wichtig, meinen Herzfrequenzbereich treffen.

Der Mandalorian und Meister Yoda folgen mein Beispiel und es entsteht eine kleine, kaum wahrnehmbare Lücke zu dem Spitzentrio, die sehr langsam, jedoch kontinuierlich immer größer wird. Ich schaue auf die Sportuhr und sehe 156 bpm, mein oberer Pulsbereich. Erneut verringere ich mein Lauftempo und Meister Yoda und der Mandalorian ziehen an mir vorbei. Egal denk ich, Hauptsache die Balance zwischen Herzfrequenz und Tempo stimmt. Schnell wird jetzt der Abstand zum Führungsduo aus Obi Wan und dem Fuchs größer. Zum zweiten Mal piepst und vibriert die Sportuhr. Der zweite Kilometer ist erlaufen.

Mist, der Blick auf meine Uhr verrät mir 3:58 min/km und einen Puls von 150 bpm. Mensch Karsten, hast du keine Lust zu laufen oder was ist los? Ich fange an mit mir selbst zu reden, kein gutes Zeichen.

Leicht genervt von meiner Unfähigkeit im optimalen Pulsbereich zu laufen, erhöhe ich jetzt sehr vorsichtig mein Lauftempo.

Nur ein paar Minuten später schmunzele ich erfreut in mich hinein, der Mandalorian verliert Meter um Meter, nur Meister Yoda ist gefühlt einen Zentimeter pro Schritt schneller. Noch bevor die Uhr das Ergebnis des dritten Kilometer anzeigen kann, ziehe ich mit einem triumphieren den Blick, so als ob ich gerade Olympiasieger auf der Marathonstrecke geworden wäre, an dem Mandalorian vorbei. Und jetzt sofort einen Abstand rauslaufen, bloß nicht langsamer werden, nehme ich mir vor. Noch ein kurzer Uhrencheck, was grundsätzlich völlig unnötig ist, denn ich muss mein Tempo gefunden haben, alles andere wäre verrückt. Doch eine Bestätigung das alles in bester Ordnung ist, tut immer gut.

Etwas hysterisch kichere ich vor mich hin, und wieder nicht den Herzfrequenzbereich getroffen. Was ist denn heute los? Kein Gefühl für die Belastung und das Tempo. Kein Gespür für den Moment und das Geschehen.

Erneut korrigiere ich mein Lauftempo nach unten und schwuppdiwupp überholt mich der Mandalorian erneut.

So zieht sich die Landschaft und viele Kilometer an mir vorbei, in einem schier endlosen gemeinschaftlichen Spiel mit dem Mandalorian des Überholens und überholt werden. Der Fuchs, Obi Wan Kenobi und die Gazelle sehe ich schon lange nicht mehr, und auch Meister Yoda hat einen beträchtlichen Vorsprung herausgelaufen.

Mit der Geschwindigkeit ist es so eine Sache. Es gibt schnelle Geschwindigkeiten und langsame und natürlich ist sie relativ. Die Kontinentaldrift lässt die Kontinente, mit der Geschwindigkeit wie Fingernägel wachsen, sich im weitesten Sinne auf dem Erdmantel bewegen. Das führte dazu, das der indische Subkontinent den euro-asiatischen Kontinent regelrecht rammte und faltete dabei das Himalaya-Gebirge mit samt dem tibetanischen Hochland auf.

Die Monsun Strömungen wurden in direkter Folge gravierend geändert und Ostafrika trocknete aus, was die Regenwaldlandschaft in eine Savanne umformte. Eine spezielle Affenart musste sich den neuen Umweltbedingungen anpassen und lernte den aufrechten Gang.

Genau zu dieser Zeit entstand das Erzgebirge und durch diese Aufschichtung die Leipziger Tieflandsbucht, mit den Flüssen Pleiße, Saale, Mulde und Weiße Elster.

Genau dort befinde ich mich nun. In einem Auenwald zwischen der Weißen Elster und Neue Luppe, bei Kilometer 16, werde ich gefühlt zum tausensten Mal überholt. Meine Laufgeschwindigkeit ist auf 4:05 km/min abgesagt und ich stehe kurz vor einem Wutanfall, was mich auf einem Ruck nochmal 8 Sekunden auf dem Kilometer langsamer werden lässt.

Ich atme tief ein, fokussiere mich und lasse einfach los. Kein Blick auf die Uhr, keine Information über Herzfrequenz und Tempo. Nur ich, meine Intuition, das Laufgefühl, die Strecke und das Ziel, so schnell wie nur möglich nach Halle/Saale auf dem Marktplatz zu laufen.

Und es funktioniert. Die nächsten 10 Kilometer laufe ich in glatten 39 Minuten. Der Mandalorian muss reißen lassen. Schade denn ich habe nicht ein einziges Mal sein Gesicht gesehen. Meister Yoda hole ich recht fix ein. Er versucht sich noch an mich dran zu hängen, doch mein Tempo ist für ihn zu hoch und auch er lässt reißen. Jetzt bin ich im Wettbewerb angekommen.

Jetzt läuft es einfach.

Der 1. Juli 1800 wird in die Geschichte des Saalkreises einen gewaltigen Fußabdruck hinterlassen, jedoch konnte das Karl in diesem Augenblick nicht erfassen. Seine Wangen waren glutrot, vor Aufregung hatte er eine richtige Feuerbirne und seine Bewegungen waren fahrig hektisch, als er auf den Dielen seiner Wirkungsstätte auf und ab ging.

Dieser 1. Juli ist eine laue Sommernach. Die Sterne leuchten am Firmament und der Vollmond verleiht der Szenerie eine mythische Atmosphäre. Doch für Karl hatte diese mystische Atmosphäre keine Bedeutung, ja, er hatte noch nicht einmal einen Blick dafür übrig.

Seine Frau Johanna liegt in den Wehen und beide erwarten im Pfarrhaus von Lochau bei Halle ihren ersten und einzigen Sohn. Nur wenige Minuten später erblickt Johann Heinrich Friedrich Karl Witte das Licht der Welt und wird später einmal der wichtigsten und bedeutendsten Dante-Forscher und Dante-Übersetzer des 19. Jahrhunderts werden.

Als ich in Abstand von 200 Meter an der traditionsreichen Pfarrkirche von Lochau vorbeilaufe, überhole ich gerade die Gazelle. Ich habe keinen Gedanken für Johann Heinrich Friedrich Karl Witte übrig, denn ich bin im Tunnel. Alles passt, ich bin im Flow. Ich fühle in meinen Körper rein, doch alles läuft rund und leicht und locker. Es passt alles noch. Ich bin bereit „All-in“ zu gehen. Noch ein wenig warten, noch ein paar Kilometer in diesem Rhythmus bleiben und den richtigen Moment erwischen.

Das Ortseingangsschild von Döllnitz fliegt förmlich an mir vorbei und 50 Meter vor mir erblicke ich den Fuchs.  Ein wenig später, mitten in Döllnitz, überhole ich ihn. Er sieht schlecht aus und muss so langsam laufen, dass er förmlich steht. Schmunzelnd stelle ich für mich fest, da hat sich am Anfang einer übernommen, kenne ich, kenne ich sogar sehr gut.

Ganz leicht lasse ich meine Herzfrequenz auf 158 bis 160 Schläge pro Minute ansteigen. Das Ortseingangsschild von Halle verleiht mir zusätzliche Motivation. Jetzt geht es rechtsrum zum Osendorfer See. Eine Schlüsselstelle der Marathonstrecke, da rund 31 Kilometer absolviert sind und sich die Straße mit 3% Steigung leicht lang hoch schlängelt. Hier sind schon so einige gute Läufer eingebrochen. 3% Steigung klingen wenig, doch nach so vielen Kilometern in den Beinen sind diese Steigungsprozente sehr giftig.

Ganz vorne, nur 500 Meter vor mir, sehe ich zwei Läufer und das Führungsfahrrad der Spitzengruppe.

Ich bin elektrisiert, denn das bedeutet ich bin der Dritte im Rennen. Jetzt schaue ich doch auf meine Sportuhr, und wow, ich bin auf Kurs Richtung persönlicher Bestzeit. Doch es kommt noch besser, die Spitzengruppe läuft nicht etwa konstant vor mir her, oder baut ihren Vorsprung auf mich aus, nein, ich laufe schneller, ich laufe auf dieses Führungsduo auf. Fieberhaft versuche ich abzuschätzen wie viele Kilometer ich benötige, um aufzuschließen.

Oh, das wird knapp, denn bis zum Ziel sind es nur noch 9 Kilometer. Okay, denke ich und gehe All-in.

All-in ist ein Begriff, den alle Pokerfreunde dieser Welt kennen. Wenn ein Spieler All-In geht, setzt er alle Chips, die er zur Verfügung hat.

In meinen Fall bedeutet das eine Herzfrequenz von 162/163 und intensiv hoffen und atheistisch beten, dass ich mit dieser Intensität bis ins Ziel laufen kann, denn Reserven oder einen Joker habe ich nicht mehr. Mehr kann dieser Körper nicht leisten. Das ist die letzte Patrone, die ich verschießen kann.

Das Führungsduo spaltet sich auf. Ein Läufer, der so gar keine Lauffigur hat, denn er ist genau so breit wie hoch, wird ein klein wenig langsamer. In meiner Gedankenwelt taufe ich diesen Laufkameraden auf den Namen das Quadrat. Jetzt erkenne ich auch die Führenden, es ist Obi Wan Kenobi!

Doch wie hat sich in Herrgottsnamen das Quadrat nach vorne gemogelt? Egal, ich bin wild endschlossen die Lücke zu zulaufen.

Noch bevor ich in Kanena/Bruckdorf linksrum auf die Leipziger-Chaussee einbiege, bin ich überzeugt das Quadrat einzuholen. Ich weiß nicht, wo ich ihn einhole, ich weiß nicht, wann ich ihn einhole, aber ich bin deutlich schneller unterwegs.

Ich laufe am HEP, an der B 6, vorbei und die Leuchtturmsiedlung kommt näher und auch sie ist eine Schlüsselstelle in diesem Marathonwettbewerb. Die Strecke geht kreuz und quer durch diese Siedlung. Irgendwie bin ich hier immer langsam unterwegs und komme gefühlt nicht voran. Auch heute ist es so. Sehr zäh spule ich Schritt um Schritt und Meter um Meter ab. Vor zwei Kilometer war ich wirklich überzeugt das Quadrat hier überholen zu können. Doch nun hat er immer noch rund 100 Meter Vorsprung. Klar bin ich sichtbar schneller, das Quadrat werde ich auch einkassieren, doch bei Obi Wan bin ich mir nicht so sicher. Wir sind bei Kilometer 37 und sein Vorsprung sind gut und gerne 300/350 Meter. Ich komme ran aber halt auch zu langsam.

Brücken sind fantastische Bauwerke, einzigartige Konstruktionen und können architektonische Meisterwerke sein. Die größte, respektive die längste Brücke der Welt ist die Danyang–Kunshan, mit einer Länge von 164,8 km und verbindet den Eisenbahnverkehr von Peking nach Shanghai.

Die aktuell älteste Brücke der Welt, die noch in Benutzung ist, steht, wie konnte es anders sein, in Griechenland. Ihr Name ist die Kazarma-Brücke und ist 3.300 Jahre alt.

Über Schönheit lässt sich bekanntlich streiten. Unstrittig ist, das der Sohn einer deutschen Einwanderfamilie am 5. Januar 1933 den Bau einer der wohl bekanntesten Hängebrücken in der Bucht von San Francisco begonnen hat.

Die geneigte Leserschaft hat es bestimmt bereits erahnt welcher Brücke gemeint ist. Die Rede ist von der Golden Gate Bridge.

Ponte Vecchio ist italienisch und lautet Alte Brücke. Die Ponte Vecchio in Florenz ist die vielleicht am meisten fotografierte Brücke. Nachdem 1333 ein Hochwasser weite Teile der Stadt überflutete und eine an derselben Stelle stehende Holzbrücke zerstört hatte, sicherte man zunächst die Ufer des Arno durch hohe Mauern und errichtete anschließend in zehnjähriger Bauzeit zwischen 1335 und 1345 die heutige Brücke aus Stein. Wer diese epische Schönheit von Brücke erbaut hat, ist unbekannt.

Mit solchen beeindruckenden Superlativen kann die Dieselbrücke in Halle/Saale nicht aufwarten. Sie ist rund 390 Meter lang, überwindet einen Höhenunterschied von 9 Metern und ist damit recht langweilig. Aus optischen/ ästhetischen Aspekten ist die Dieselbrücke nicht nur langweilig, sondern in Beton und Stahl gegossene Tristes.

Auf dem kurzen Stück von der Leuchtturmsiedlung zur Dieselbrücke habe ich mir das Quadrat zurechtgelegt. Im Brückenanstieg möchte ich ihn nicht nur überholen, nein, ich möchte so an ihm vorbeifliegen, dass er keine Lust hat, mit mir mitzulaufen, so an ihm vorbeilaufen, dass es ihn jede Hoffnung raubt, zu kontern. Ich will ihm mit meinem Tempo mental zerstören und demoralisieren.  Obi Wan ist jetzt oben auf der Dieselbrücke. Das Quadrat läuft in den Brückenanstieg rein und ich bin 20 Meter dahinter. Wenige Augenblicke später bin ich im Brückenanstieg und behalte mein Tempo bei, obwohl es nach oben geht. Sofort steigt mein Puls auf 171 an, was sich für mich wie ein klein wenig sterben anfühlt. Ruckzuck sind 20 Meter auf das Quadrat zugelaufen. Als ich an ihm vorbeilaufe, gebe ich ihn einen kleinen Klaps auf den Rücken und sagen in einem mitleidigen Ton, Kleiner wir haben es gleich geschafft, und ziehe an ihm vorbei. Diese psychologische Kriegsführung hätte ich mir sparen können. An seiner Startnummer, die vorne an seiner Brust befestigt ist, sehe ich, es ist ein Staffelläufer. Okay, ist jetzt auch egal, ich muss drauf bleiben und laufe in Vollspeed die Dieselbrücke runter. Obi Wan, der Führende des Marathonwettbewerb, ist nur noch 50 Meter vor mir. Was für eine einmalige Chance, ich brauche einen Plan, denke ich so.

Erstmal auf Obi Wan auflaufen, dann daran bleiben und dann, wer weiß, im Zielsprint ist vielleicht alles möglich.

Ich laufe, was die Beine hergeben. Obi Wan hat nur noch 40 Meter Vorsprung. Mein Puls ist inzwischen bei 174 Schlägen angekommen, Grenzerfahrung. Mein Körper ist so unglaublich belastet und steht kurz vor der totalen Implosion, doch es sind nur noch 2 Kilometer.

Ein letztes Mal versuche ich mich zu motivieren und spreche mit mir selbst. Karsten, Distanz ist, was dein Kopf daraus macht, mein Wille ist meine Grenze, und wenn ich nicht mehr kann, dann laufe ich einfach schneller!

Es funktioniert, ich komme noch näher an den Führenden ran, vielleicht nur noch 35 Meter Rückstand. Wir sind am Thüringer Bahnhof angekommen. Obi Wan läuft 25 Meter vor mir. Doch ich kann den Abstand nicht mehr verkürzen.

Richard David Precht hat voller Weisheit in einen seiner Bücher geschrieben, das Universum baut selten etwas auf, wofür es die Steine nicht woanders herholt. Und ich habe meine Steine am heutigen Tag verbaut. Mein Tempo kann ich nicht mehr halten, und Obi Wan beschleunigt jetzt, da er mich bemerkt hat, auch noch zu allem Überdruss. Aus den 25 Metern Rückstand werden schnell 100 Meter.

Als ich auf die Straße zum Hauptbahnhof einbiege, ist Obi Wan aus meinem Blickfeld sprichwörtlich entlaufen.

Ich bin ein wenig enttäuscht von mir und laufe am Seiteneingang des Hauptbahnhofes entlang, an der Straßenbahnhaltestelle vorbei und biege unten nach links in Richtung Riebeckplatz ab, als mich eine sehr vertraute Stimme motivierend anfeuert, lauf Karsten, lauf. Meine Mama hat sich auf den Gehweg zwischen Riebeckplatz und Hauptbahnhof postiert, um mich und Olli anzufeuern. Mama, antworte ich maximal überrascht und bleibe fast stehen, was machst du denn hier? Lauf weiter, lauf weiter, ruft sie energisch, was mich wieder leicht beschleunigen lässt. Du bist Zweiter höre ich ihre Stimme noch hinter mir hallen. Nun schnell über den Riebeckplatz und den Boulevard mit Schwung nach unten gelaufen. Ich schiele ein letztes Mal auf meine Uhr, das sieht richtig gut aus. Ich höre die Stimmen des Moderators und die Musik aus dem Zielbereich. Nur noch 200 Meter. Mit großen Schritten laufe ich auf die Ziellinie zu. Und geschafft. Die Uhr bleibt bei 2 Stunden, 47 Minuten, 11 Sekunden stehen. Sofort werde ich von Tino in Empfang genommen. Er ist völlig außer sich und hoch emotional. Ganz kurz, für einen Wimpernschlag keimte bei ihm die Hoffnung auf ich könnte diesen Lauf gewinnen, denn der Sieger ist gerade mal 30 Sekunden vor mir ins Ziel gekommen.

Ich muss lächeln. Nein dieses Jahr nicht. Diesmal war ein anderer besser und hat zu Recht gewonnen. Doch den zweiten Platz habe ich mir erkämpft.

Der Schmerz wird vergehen, doch der Stolz bleibt.

Apropo Stolz oder besser gesagt Stolze. Wie wird es Olli so ergehen, frag ich mich. Doch das ist eine andere Geschichte, die ein anderer viel besser erzählen kann.

Epilog

Ich sitze mit Nina in der Schillerstraße und diese Geschichte ist zu Ende geschrieben. Doch mit den kleinen Ausschweifungen in die Welt der Physik, Geologie und Architektur ist Nina nicht ganz zufrieden. Wo sind die Erwähnungen der schieren Unmengen an Essen, die ich höchstwahrscheinlich vertilgt haben werde? Frei nach René Descartes müsste ich schreiben, ich esse also bin ich. Oder der Kopf macht die Distanz doch die Distanz zum Essen sollte so klein wie möglich sein. Ohne Nahrung keine Kalorien und Fette, die der Körper verbrennen kann, um solch eine Strecke in, wenn möglich persönlicher Bestzeit, zu meistern. Und so schließt sich der Kreis. Ich esse, also bin ich – Marathonläufer.

Eine andere wichtige Frage, und wie die Nahrungsaufnahme auch ein Grundbedürfnis, das erst befriedigt werden muss um auf der Leiter zur Selbstverwirklichung nach ganz oben zu steigen, ist der Schlaf. Warum bleiben die vielen, vielen Stunden Schlaf, die ich benötige unerwähnt? Auf nicht jede Frage gibt es eine Antwort. 😊